„Biesenthal?? Das liegt doch ganz woanders!“, die Stimme der jungen Frau auf dem Pferd klingt leicht genervt, ihre behandschuhte Hand mit der Glitzergerte zeigt ungeduldig in genau die Richtung, aus der wir gerade gekommen sind.

Ich unterdrücke einen Seufzer und sehe, wie die Gesichtszüge von Helena kurz entgleisen und sie sich mit blassem Gesicht zu mir und Andvari umdreht.

„Am besten fragt ihr nochmal jemand anderen, genau weiss ich es jetzt auch nicht“, die Reiterin auf ihrem makellos geputztem Pferd mustert uns abschließend und will offenkundig weiter, sie hat keine Zeit für zwei solch abgewrackte Erscheinungen wie uns.

Irgendwie verständlich – in dem Moment wird mir auch klar, wie wir auf Frauen wie diese, nennen wir sie mal Larissa, wirken müssen.

Zwei Mädels mit irren Schlapp- bzw Cowboyhüten, staubigen Overalls inklusive umgeschnallte Ersatzhalfter als Gürtel, verschwitzten Gesichtern und dreckigen Schuhen, die seit dem frühen Morgen mit ihren mindestens genauso verschwitzten Islandpferden unterwegs auf Wanderritt sind. 

Unsere verstaubten Reithelme baumeln längst gut festgeschnallt an den Sattelpacktaschen, direkt neben der Limo und der Tasche mit den Karotten und Proteinriegeln.

Gut drauf sind wir, aber die Erschöpfung ist uns einfach anzusehen.

Klein und struppig sehen wir aus, viel zu klein und struppig für Erscheinungen wie diese Larissas. Denn bei ihr stimmt jedes Detail, vom Outfit bis hin zur grünen Schabracke, perfekt abgestimmt zur Ohrenhaube und den Gamaschen, die Reitstiefel penibelst geputzt, selbst der Reithelm blinkt wie neu. Larissa verkörpert genau das Bild der Pferdemädchen aus unzähligen Katalogen von diversen Pferdesporthäusern, die stimmungsvoll ausgeleuchtet und professionell geschminkt die neuesten Editionen der Pferde-& Reitermode präsentieren. Alles schön und gut. 

Nur fällt mir in diesem Moment wieder auf, dass solche Mädels wie Larissa & Co trotz der beeindruckenden Mode – alles nachhaltig, eh klar – es wohl nie vermittelt bekommen haben, dass es unter Reitern (ebenso wie in jeder anderen Outdoor/Sportszene auch) einen simplen Kodex gibt. 

Man hilft einander, bietet Unterstützung an.

Wenn jemand nach einem Weg fragt oder nicht weiterweiss, reagiert man.

Ob nun ein liegengebliebenes Auto, ein kaputtes Fahrrad, verirrter Jogger oder Wanderer oder eben zwei Mädels mit struppigen Pferden, man hilft. Oder probiert es zumindest.

Aber woher soll eine Larissa das schon wissen? Von Hilfe anbieten steht ja in ihrem schicken Reiterkatalog nichts drin.

Wir starren der Frau auf ihrem wunderschönem schwarzem Pferd hinterher, die sich im zügigem Trab Richtung Wald entfernt, ohne einen einzigen Blick zu uns zurückzuwerfen – wozu auch?

„Willste noch ’n Proteinriegel???“, ich grinse Helena an und verstecke unauffällig die grad gedrehte Zigarette („hör auf zu rauchen, Sylviiii! Iss ungesund!!!!“).

Wir beginnen wie die Irren zu lachen. Denn hey, die Richtung nach Biesenthal stimmt, Handy GPS, Google Maps und zweite aufgeladene Powerbank sei Dank.

Larissa und ihr Pferd lassen wir links liegen – das Leben ist einfach zu kurz und zu spannend für solche frustrierenden Begegnungen mit solchen Menschen, beschliessen wir.

Andvari schnaubt und schüttelt seinen Kopf, er will weiter. Oder grasen? Wahrscheinlich eher Letzteres, ich kenn doch meinen Burschen. Ich streichle ihn beruhigend und während wir die Pferde kurz grasen lassen, klingelt das Handy. Klaus, der Inhaber vom Reiterhof in Biesenthal (unserer heutiges Ziel für Tag I des Wanderrittes), ist dran. Er fragt, wo wir sind und wie es läuft.

Wir schildern ihm kurz unsere Lage und Klaus beruhigende Stimme erklärt uns kurz den Weg. So weit entfernt sind wir nicht mehr, meint er. Und ja, wir würden es zeitlich gut schaffen, vor Sonnenuntergang am Hof zu sein.

Na dann. 

Ich suche noch ein freies Eckchen in einer meiner vielen Taschen für die Ersatztrense (das Gebiss vom Kappzaum, den ich auch als Wanderreittrense nutze, ist schon längst abgeschnallt) und nach einem kurzen Rundum-Check („wo ist nochmal Norden??“) marschieren wir weiter. 

Und auf einmal ist die Müdigkeit wie weggeblasen, wenn auch nur für kurze Zeit – denn wir haben wieder ein Ziel.

Es ist inzwischen halb vier nachmittags – noch gute anderthalb Stunden Fussmarsch liegen vor uns.

Wär doch gelacht, wenn wir das nicht hinkriegen.

Wir trotten vor uns hin. 

Ich fange an zu gähnen und versuche, einen gleichmäßigen Schritt einzuhalten. Neben mir klappern Andvaris Hufe, vor mir läuft Helena mit ihrer Hekla, die dank des treuen Handys die Führung übernommen hat und zielsicher den Weg weist.

Wir sind schon ein verdammt gutes Team.

Und ich merke, dass wir seit gut acht Stunden unterwegs sind und wir zwei so langsam körperlich an unsere Grenze gelangt sind.

04.30 Uhr nach einer kurzen Nacht im dunklen Stall aufstehen, Discokugel, Zelt & Klamotten einpacken, Pferde holen, putzen, füttern und tränken, anschliessend satteln und die vollen Packtaschen möglichst schonend und gut ausbalanciert auf dem Pferderücken verstauen.

Kurz nach sieben Uhr verliessen wir den Hönower Hof, in dem wir übernachtet haben, um möglichst bei Sonnenaufgang die erste lange Etappe zu starten.

Ein herrlicher Nebel umgab uns, als wir langsam im Schritt über den Schwarzen Weg hin den Autobahntunnel der A10 durchquerten, auf dem Altlandsberger Weg vorbei an der „Rittschule am Walde“ ritten (was für ein herrlicher Titel!!), beäugt von neugierigen Pferden, anschliessend an gespenstisch nebelverhangenen Strommasten, die an dystopische Filmkulissen erinnerten, vorbei Richtung Krummensee/Werneuchen. 

Kaffeepause bei Edeka Grau in Werneuchen, so der kongeniale Plan von uns beiden im Vorfeld.

Und dann weiter querfeldein, weg von den lärmigen Menschen, politisch korrekten Imbissbuden, Autos und ewigen gleich aussehenden Landstrassen.

 

Wir sind hardcore, schworen wir uns die Tage davor, als wir die Karten wälzten, Routen entwickelte und wieder verwarfen, um schliesslich die erste Route doch handschriftlich aufzuschreiben und sogar ausdruckten. Für den Fall der Fälle.

Die handgeschriebenen Zettel ruhen inzwischen längst unbeachtet in den Taschen, da sich schon beim Losreiten herausstellte, dass uns das Handy wesentlich genauer führte. 

Funkloch in Brandenburg?

Ich weiss, es hört sich nach Fantasy an – gerade in good old Brandenburg – aber fehlender Empfang war das letzte, was uns hinderte. Eher die verlorengegangene Powerbank, die nun auf irgendeinem Feld ihr ungestörtes Dasein fristet – wie gut, dass wir noch eine zweite dabei hatten.

Den Kaffee bei Edeka Grau haben wir geschmissen, zwar lagen wir da noch gut in der Zeit, aber die weiten verlassenen Felder irgendwo zwischen Werneuchen und Tempelfelde waren wie geschaffen für eine erste ausgiebige Mittagspause.

 Denn darum geht es bekanntermassen bei Distanz bzw Wanderritten. Man reitet nicht schnell, sondern lange, möglichst im langsam ausdauerndem Tempo. 

Mit bepackten Pferden, die zusätzlich auch Reitergewicht tragen müssen, ist eine schnellere Gangart ein No Go – da heisst es eher öfter, absteigen und einen ausdauernden Schritt finden, um den empfindlichen Pferderücken zu entlasten.

Der Weg ist das Ziel.

Auch wenn zwei verrückte Mädels wie wir mit unserer Strecke eine, nun ja, nicht wirklich klassische Wanderreitroute gewählt haben. Denn dieses Mal gab uns das Ziel (Islandpferdehof Faxaból bei Liebenwalde) den Weg vor, den wir zu wählen hatten.

Trotz Verirrungen, Wälzattacken von Andvari mitten auf dem Feld, Stolperaktionen meinerseits über gewisse Anbindestricke und gnadenlos abenteuerliche Streifzüge durch Wälder, mitten über moosbewachsene Baumstümpfe und über und unter uns knackend peitschende Zweige – gut, dass ich inzwischen einhändig reiten und mit der freien Hand meinen geliebten Cowboyhut festhalten kann, sonst wäre der todsicher auch verloren gegangen auf diesem Trip – wir haben es geschafft.

Wie genau, weiß ich zwar offengestanden auch nicht mehr genau – aber völlig egal.

Was ich noch bis heute genau weiss, war das euphorische Gefühl von uns beiden, als das Ortsschild mit dem heiss herbeigesehntem Namen „Biesenthal“ vor uns auftauchte, just zu einem Moment, als die Sonne malerisch im spätsommerlichen Glanze schien und ihr Bestes gab.

„Noch 1 km bis zum Hof!“, jubelten wir einstimmig und blökten ungeniert unser Glück hinaus in die Gegend.

Gut eine Stunde später ist von unserem glücklichem Gelächter und Herumblödeln keine Rede mehr. Nur keine Bewegung, Fusstritt oder gar Wort zuviel, unser Energielevel ist längst aufgebracht.

„Akkuladestand bei Minus 100 Prozent, Tante Siiielwier! Aufladen bitte!!!“,  würde mein technikverliebter Neffe jetzt begeistert quieken. Wenn der wüsste.

Wieso hat uns keiner erzählt, dass genau der letzte Kilometer vor dem Ziel der (Himmel nochmal!!)  anstrengendste der gesamten Tour ist??

Wieso hat uns keiner erzählt, wie unfassbar langwierig und aufreibend es ist, quer durch diesen nichtssagenden Ort (entschuldigt bitte, liebe Biesenthaler!) mit zwei erschöpften Pferden zu marschieren und die neugierig gaffenden Blicke vorbeikommender Passanten sowie glotzender Menschen aus vorbeifahrenden Bussen (die mochte Andvari verständlicherweise überhaupt nicht) zu ertragen?

Wieso nicht?

 

Ein paar empörte Hühner gackern uns über den Weg, begleitet von blökenden Ziegen und bellenden Hofhunden, während wir nach der freundlichen Begrüßung unsere Pferde an dem uns zugewiesenen Platz endlich absatteln, trockenreiben und zum entspannten Wälzen aufs einen freien Reitplatz führen.

Ich las neulich irgendwo auf einem Blog, dass Islandpferde zu den zähesten Robustpferderassen weltweit gehören. Und Tage später irgendwo anders, dass man sein Pferd und sich am besten auf einem gemeinsamen Wanderritt kennenlernt. 

Für mich definitiv nichts Neues, dennoch eine überwältigende Erfahrung.

Heute habe ich erfahren dürfen, wie unfassbar zäh, ausdauernd und unkompliziert unsere beiden Isis doch sind. Natürlich sind wir beide seit Jahren vertraut mit unseren Pferden, aber trozdem. Für uns beide war es der erste grosse Wanderritt gemeinsam, ohne Führung und ohne zugeteilte Pferde, nur wir – allein auf uns gestellt.

Aber genauso wollten wir es auch. Denn wir vertrauten uns und unseren Pferden blind – und ich bin heute noch extrem glücklich und stolz auf meinen Andvaschatz, der mit mir jeden Weg geht ohne zu hinterfragen (okay, das Wälzen auf dem Feld war leicht scary und die Busaktion zum Schluss auch ein bisschen fragwürdig, aber dennoch völlig verständlich aus seiner Sicht heraus).

Während ich die heisse Kaffeetasse umklammere und mit der anderen Hand umständlich meine zerknautschte (vor Stunden schon für diesen Anlass vorgedrehte) Zigarette herausfingere, beobachte ich glücklich, wie Andvari nach ausgiebiger Musterung der neuen Umgebung endlich beschließt, sich zu wälzen, natürlich im angemessenen Abstand zu Helenas Stute Hekla, die schon zufrieden abschnaubt und Richtung Gästepaddock zum Heu geführt wird.

„Hey!!! Habt ihr irgendwo einen WLAN Code?? Und wollen wir die Route für morgen gleich mal besprechen?“, höre ich Helena rufen, energiegeladen wie immer. So, als hätten wir keine aufreibenden 10/einhalb! Stunden Tour hinter uns. 

Hm.

WLAN in Brandenburg? Route für morgen?

Ich würd sagen, erstmal Kaffee.

Dann Doppelstockbett sichten und die nassen Sachen auf den Heizkörper knallen.

Und dann sehen wir weiter.

Aber wie ich meine Helena kenne, wird sie gleich ungeduldig an meinem Arm zerren und mit mir die Route für den kommenden Tag besprechen wollen. Und eh klar, dass Profis  wie sie parallel Klaus auf seinem Handy schnell zeigt, wie man sich per QR Code auf seinem WLAN am Hof einloggen kann. Und nur so süsse Energiebündel wie sie ignorieren dabei geflissentlich das verständnislose Gesicht von Klaus, der eigentlich nur in Ruhe seinen Feierabend geniessen will und im Kopf schon das Futter für die Frühschicht am kommenden Morgen durchgeht.

Pferde-& Gemütsmenschen wie Klaus kennen eben nicht gewisse QR Codes auf ihren Smartphones, eher die einzelnen Futterrationen bei den gut 150 Pferden, jedes einzelne hat er im Kopf. Mehr braucht es manchmal nicht.

Die Uhr hier in Biesethal tickt einfach etwas anders.

Und während unsere Pferde erschöpft aber zufrieden ihr Heu mümmeln, lotse ich uns Richtung Zimmer.

Das Bett ruft.

„We can be heroes, just for one day“, singt Peter Gabriel, während ich auf den Tag genau vier Wochen später nachts diese Zeilen in meinem Wohnzimmer tippe und dabei versuche, mich in das Gefühl zurück zu versetzen, wie ich an jenem Abend bis auf die Knochen müde und durchfroren in den dünnen Bettdecken des Doppelstockbettes im nüchtern eingerichteten Pensionszimmer des Reiterhof Biesenthal eingewickelt versuche, einzuschlafen.

„Gute Naaaaacht, Syyyylllviiiiii … „, Helenas schläfrige Stimme tönt in meinem Ohr, so wie in der Nacht vor vier Wochen. „Gute Naaaaacht Swiiiietiiiih ….“, ich gähne zurück und drehe mich zufrieden zur Wand.

Und ich schlief verdammt gut in dieser Nacht, hier im wunderschönen Biesenthal, das kann ich euch sagen.