„Jeh‘ doch mal aus dem Weech mit die Akkordeon da!!“ brüllt mir der ältere Herr mit der typischen Kleingartenschiebermütze ins Ohr und drängelt sich an mir vorbei zum Busausgang.

Ich, mit Cello auf dem Rücken samt Rucksack in der Hand von oben bis unten zugepackt, glotze etwas dümmlich und starre verdutzt dem vor sich hin schimpfenden Männlein hinterher, der ins Dunkle der Nacht verschwindet. Die Bustür schnauft beim Schließen, ein Ruck geht durch den menschenleeren Bus und die Fahrt geht unbeeindruckt weiter.

Berlin, 2005. Es ist spät in der Nacht, längst dunkel und mein Cello & ich sind allein unterwegs – irgendwo in Steglitz, glaube ich. Zu irgendeiner Probe. Mit wem und was, keine Ahnung.

Aber was ich bis heute genauestens in Erinnerung habe, ist dieses Gefühl beim Aussteigen, ein paar Stationen später. Wut gepaart mit heimlichen vor sich hin Gackern ob dieser bizarren Situation.

Denn ganz ehrlich. Wie kann man ein Akkordeon bloss mit einem Cello verwechseln? 

Tscha.

Bis heute erzähle ich diese Story gerne, und zwar nicht nur meinen Schülern. Denn man lebt schon gefährlich, so als Reisender. Mit oder ohne Instrument.

Und dann sind sie auf einmal da, die Erinnerungen. Während ich hier aus dem Tourbus am Handy diese Zeilen tippe und innerlich darum bete, dass der Akku noch etwas hält – denn der Text hier wird lang & die Playlisten schier endlos – schiebt sich ein Bild nach dem anderen in mein inneres Gefühlskaleidoskop.

Ich versuche zu sortieren, zu verarbeiten und zu ordnen. Mit mäßigem Erfolg. 

Ursprünglich wollte ich mit diesem Beitrag über den vergangenen Samstag berichten, über die Wiedereröffnung meines Salon27 und wie trotz der flirrenden Hitze das – zugegebenermaßen – überschaubare Publikum jede einzelne Minute des grandiosen Jaques Brel Programms von Andrea Kathrin Loewig und ihren Musikern genoss.

Schön war es und wunderbar intensiv.

Ich habe mich über jedes einzelne Feedback sehr gefreut und ja, es wird weitergehen mit dem Salon – definitiv!

Seit Dienstag bin ich selbst wieder auf Tour und finde trotz des enggetakteten Programms endlich mal Ruhe zum Nachdenken.

Am Montag fand in Potsdam die Trauerfeier für einen wunderbaren Menschen statt. Ein zweiter Musiker aus meinem Umfeld, der viel zu früh und plötzlich gehen musste.

Dieser gottverdammte Krebs.

Eduard Walls Musik am Bajan sowie Knopfakkordeon, und seine ganze Persönlichkeit haben mich vor Ewigkeiten – ich war da noch Studentin- extrem berührt und geprägt.

Und ich sage es an dieser Stelle ganz deutlich: es gab eine Zeit, wo ich es bitterlich bereut habe, nicht im Hauptfach das Akkordeon gewählt zu haben. Nix gegen das Cello und erst recht nix gegen das Klavier – aber!

Beide Walls, Eduard und vor allem seine Frau Gudrun, nahmen mich als chaotische und spielwütige Cellistin unter ihre Fittiche und betreuten mich und meine Duopartnerin Sarah am Akkordeon mit endloser Herzenswärme, Professionalität und grenzenloser Hingabe, ob in der Hochschule im Unterricht, bei sich zu Hause oder bishin zum Wettbewerb in Baden Baden (DAM).

Dieses intensive Arbeiten, Proben & Konzertieren (natürlich noch ohne kommerziellen Hintergrund, heute lebe ich davon und muss Prioritäten setzen, damals wollte und musste ich einfach nur spielen) hat mir extrem gutgetan und ein Stück weit mit den Weg geebnet.

Und ich wünsche an dieser Stelle jedem Schüler und jedem Student diese Erfahrung und Nestwärme, die ich in dieser für mich sehr schwierigen Zeit so gebraucht und genossen habe. Die ohne Frage jeder Studierende letztendlich in seinem individuellen Werdegang braucht. 

Lehrer- & Musikerpersönlichkeiten, die inspirieren, prägen, begleiten und formen.

Die das kompromisslose Vermitteln von Musik mit all dem, was dahintersteht, dermassen feinfühlig zu handhaben verstehen, so dass Raum für die eigene Entwicklungsphase mitsamt Erinnerungen für ein ganzes Leben bleibt und man sich bis heute verstanden fühlt.

2016 habe ich Eduard das letzte Mal gesehen und gesprochen, zusammen mit Tobias Morgenstern im geliebten Theater Am Rand.

Immer wieder stand im Raum, dass man sich wiedertrifft, aber.

Aber.

Natürlich gehöre ich nicht zum engen Kreis und war auch nicht bei der Verabschiedung in Potsdam dabei – aber diese Zeit mit den Walls wird mir ein Leben lang in Erinnerung bleiben.

Lasst uns also weiter die Akkordeonklänge erspüren und dem Ziehen des Balges lauschen ( „… atme mit dem Bogen, Sylvia! Und achte auf den Balg!“)

Und wie ich atmete. Und beseelt spielte.

Juni 2022. Irgendwo am anderen Ende des Tones sitzt er, der Akkordeonspieler, umgeben von den Klängen Scarlattis, Vivaldi und Bach (ja liebe Pianisten, DAS geht!!) bishin zu Gubaidulinas „In Croce“ – bis heute kann ich an keinem Akkordeon spurlos vorbeigehen.

Egal, wieviele hysterische Kleingeister in irgendwelchen Bussen mich zur Seite stoßen.

Sie wissen es eben einfach nicht besser.

Danke fürs Lesen.

Gewidmet Eduard Wall (*18. Mai 2022)