„Syyyyylviiiiiaaaa riecht nach Pferd!!!“
Bis heute höre ich meine Brüder und Nachbarjungs erbarmungslos lästern, wenn ich abends mit quietschenden Reifen (Aufpumpen war nicht so mein Ding, Federn am verbeulten Lenkrad hingegen schon) erschöpft aber bis ins Innerste erfüllt von der Trabrennbahn Karlshorst nach Hause geradelt kam und die Klamotten in die Ecke schmiss, geflissentlich die schimpfende Stimme meiner Mutter ignorierend.
Offengestanden war es mir piepegal, wie ich aussah oder gar roch, na und was meine Brüder grölten, sowieso. Wir kloppten uns dann in der Regel nach kurzem aber heftigem Wortaustausch liebevoll im Garten und übten dann einträchtig Bogenschiessen, Anschleichen und Knieschuss (wie bei Karl May ausführlichst beschrieben) oder Tomahawks werfen. Also zumindest das, was wir für Tomahawks hielten.
Egal war mir allerdings nicht das leidige Gelästere am Stall, vornehmlich das der Mädchen, die dort in erdrückender Überzahl umherschwirrten. Schlank, gutaussehend, immer schick gekleidet und vor allem: NIE ALLEIN.
Mädels wie diese Nadines, Connys oder was weiß ich tauchten IMMER in Rudeln auf, standen am Rand der Reitbahn und beobachteten abschätzig komische Dinger wie mich, die sich bemühten, auf das schier unendlich große Pferd zu kommen. Ob nun Voltigieren (es hat meine Mutter große Kraftanstrengung gekostet, mich da überhaupt anmelden zu dürfen, wie ich heute weiß.) Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, wollte mich der Reitlehrer (darf ich an der Stelle eigentlich das Wort Lehrer benutzen? Sonderliche pädagogische Kenntnisse in Bezug auf Kinder oder gar Pferde hatte der Typ eindeutig nicht vorzuweisen. Im Rumbrüllen hingegen war er gut) sowieso nicht mehr in der Gruppe haben. Warum, keine Ahnung. Und zum Thema Voltigieren bin ich längst der Meinung, dass Turnen am Boden wesentlich effektiver ist als auf einem empfindlichen Pferderücken, der sich überwiegend monoton unter dir im Kreis bewegt. Nun ja.
Natürlich war die aggressiv brüllende Stimme des Reitlehrers ebensowenig hilfreich wie die feindseligen Blicke dieser gestylten Girls. Aufgeben war natürlich keine Option, verprügeln leider auch nicht. Und was sollte ich diesem cholerischen Reitlehrer oder diesen Connys schon sagen? Dass ich das Reiten und den Geruch von Pferden einfach bedingungslos liebte? Dass ich alles tun würde, um gefühlt jede freie Sekunde mit einem Pferd verbringen zu können? Dass es mir die Welt bedeutete, einfach da zu sein, im Gras neben dem Pferd zu liegen, in der Hand eines meiner geliebten Indianerbücher, im Geiste über die Prärie galoppierend? Nichts von dem, kein einziges Wort meiner damaligen Gefühlswelt und überbordender Fantasie hätte ich auch unter Androhung der fürchterlichsten Todesqualen – darin waren meinen Brüder und ich sehr geübt – mit denen teilen wollen. Instinktiv war mir klar, dass es eh nicht verstanden worden wäre. Und ich einfach nicht in diese glänzende Wendywelt und Gespräche über Jungs hineinpasste.
Wenn ich es übrigens erstmal auf ein Pferd geschafft hatte, konnte ich da oben gefühlt alles. Angst vor dem Runterfallen hatte ich nie, Angst vor dem Aufsteigen hingegen schon. Gegenhalten der Steigbügel oder so etwas wie Aufstiegshilfe, heute bei uns Reitern selbstverständlich, da vor allem rückenfreundlicher fürs Pferd, war damals kein Thema. Man hatte es einfach hochzuschaffen, Punkt.
Nach meiner kurzen Zeit in der Voltigiergruppe und im Reitunterricht verschlug es mich dann zu den Trabern.
Und zu Scholli.
Scholli, ein junger schwarzer & höchst temperamentvoller Traber, der im Rennstall des Trainers stand, bei dem ich eine Weile aushelfen durfte. Da war ich dann quasi jedes Wochenende zu Hause, half samstags beim Renntag oder beim Training aus, betreute sonntags am Ruhetag die Pferde – endloses Ausmisten, schwere Schubkarren schieben, stundenlanges Putzen der Fahrriemen und dem weiteren damals gängigen Equipments inklusive.
Ich lernte viel in der Zeit, bis hin zum korrekten Anspannen der Longschaft oder den wesentlich leichteren Sulkys. Irgendwann schaffte ich es sogar, mit der biestigen Kaffeemaschine des Trainers umzugehen. „Ich hab dir doch gezeigt, wie die geht!!! Nu mach mal!“, raunzte die Stimme von olle Trainer Götze. Er meinte es gut, manchmal hatte ich sogar den Eindruck, dass er mich mochte.
Nie vergesse ich den Tag, als ich erstmals von ihm allein damit betraut wurde, Scholli mit dem Rennsulky auf der großen Rennbahn zu fahren.
Bis heute spüre ich den schneidenden Wind in meinem Haar und den zusammengekniffenen Augen, die hoffnungslos beschlagene Brille – erinnert sich einer von euch an die Szene des jungen Harry Potter auf seinem Feuerblitz beim Quidditchturnier und seiner matschig kaputten Brille??? – so ungefähr sah ich auch aus, nur ohne Rennbesen ;-))
Bis heute sehe ich den wehenden schwarzen Schweif dicht vor mir – im Sulky sitzt man gefühlt direkt HINTER dem Pferd und der rasant arbeitenden Hinterhand – höre die rhythmisch hart donnernden Hufe auf der Rennbahn und spüre das schwer in Worte zu fassende Gefühl, wie es sich anfühlt, dieses Tempo zu steuern und mitzuerleben.
Was für ein Pferd!
„Du hast ihn aber ganz schön gescheucht! Du solltest ihn doch zuerst langsam fahren?? So wie wir es geübt haben?“ Die vorwurfsvolle Stimme des Trainers nach dem Beenden (ich hatte es sogar geschafft, ihn ruhig auf dem kleinen Seitenweg zurückzulenken, ohne dass Scholli ausbrach, das machte er nämlich sonst gerne – traf mich hart und holte mich sofort aus meiner Glückswelt.
Natürlich hatte er recht. Scholli war schnell und mit einer unfassbaren Kondition gesegnet. Aber gerade bei hochgetunten Rennpferden wie ihm war es wichtig, im ruhigen Schritt zu arbeiten. Gerade bei ihm.
Bei den nächsten Malen zähmte ich also brav meine Ungeduld – und ihn. Wie oft ich ihn damals fahren durfte, weiss ich natürlich nicht mehr im Detail.
„Hier haste fünf Mark, Kleine!!!“, der dicke Pferdebesitzer mit der goldenen Uhr und seiner dauergewellten weiblichen Begleitung, die nie mit mir redete (komisch, dass ich das noch weiss) wedelte fordernd mit einem Schein vor meiner Nase herum. „Bring die Pferde rüber zur Dusche! Und danach zurück zur Box!“ Ich steckte gehorsam die Kohle weg und kümmerte mich um das kostbare Eigentum dieses Typen, während mein Trainer schon am nächsten Pferd arbeitete.
Zeit war schon damals ein kostbares Gut – und selten blieb den Pferden freie Zeit. Bis auf die Tage, meistens Sonntag, wenn ich mir eins schnappen durfte und sie rüber zum Grasen brachte. So etwas wie Robusthaltung oder gar 24/7 Weide, wie heute bei meinen zwei Isländern selbstverständlich, kannten diese Pferde nicht.
Und doch war ich glücklich. Im Gras zu liegen, in die Wolken starren, dicht neben mir das hart rupfende Pferdemaul, dem ich ab und zu Löwenzahn oder noch besser, eine Karotte oder Apfel ins Maul schob.
Und ab und zu schwang ich mich, so ganz ohne Sattel natürlich, auf den Rücken. Komisch, da ging es auf einmal. Nur schnell wieder runter, denn keiner sollte sehen, wie ich auf einem kostbaren Trabrennpferd sass.
Scholli und ich waren unzertrennlich, bis eben zu dem Tag, an dem er nicht mehr da war.
Bis heute weiss ich nicht, was aus ihm geworden ist. Ich kenne weder seinen vollständigen Namen, noch Geburtsjahr, noch eingetragene Renn-ID. Vielleicht könnte ich es heute besser recherchieren, aber ganz ehrlich? Ich will es lieber nicht wissen.
Denn ich wusste nichts von dem unbarmherzigen Druck damals (wie bis heute) in der Pferdesportszene. Nichts von der drückenden Konkurrenz, auch noch Jahre nach der Wende. Ob nun Galopp- oder Trabrennbahn im Osten Berlins, fast alle mussten dort um ihre Existenz kämpfen. Denn die Konkurrenz aus dem westlichen Teil der Stadt war hart.
Viele Trainer wurden arbeitslos und bei einigen war der Griff zur Flasche oftmals die einzige Lösung.
Es waren die 90er. Ungezählte Existenzen und Pferdeseelen zerbrachen von heute auf morgen.
An dem Tag, wo Scholli spurlos verschwand, mein ältester Bruder seine erstes Auslandsjahr in Frankreich startete und mein zweitältester Bruder seine Lehre in Brandenburg, verschwand auch ich von der Rennbahn. Zu hart traf mich der Verlust, zu hart zu verkraften, wie inhuman die Rennsportszene mit hochsensiblen Existenzen wie Pferden umgeht. Und verbannte generell das Thema Pferde aus meinem Leben. 27 Jahre sollte es dauern, bis ich wieder dort auftauchte und Erstaunliches feststellen konnte.
Und gute 29 Jahre später bin ich es nun, die breit grinsend am Rand eines Reitplatzes oder Ovalbahn steht und mit Argusaugen liebevoll „meine“ Mädels beobachtet, die mit mindestens genausoviel Hingabe und Herzblut meine zwei Islandpferde und Hunde betreuen, gelegentlich reiten und mir so mehr und mehr eine echte Hilfe im Training und Alltag geworden sind.
Ihr Pferdemädchen da draussen – diese Zeilen sind für euch.
Bleibt weiterhin cool, furchtlos und emphatisch. Habt jeden Tag Stroh (oder Heu) im Haar und lasst euch von niemanden eure Leidenschaft und die Liebe für das Pferd nehmen.
Niemals.
*gewidmet meinem verstorbenen Trainer & Mentor Manfred Götze, Scholli & Johannisfeuer. RIP, ihr wunderbaren Seelen.*
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