Ich gebe es zu. Seit Tagen schon nehme ich mir vor, regelmäßiger zu schreiben, aber es fällt mir offengestanden sehr schwer. Zuviel an erlebten Eindrücken und Bildern, zuviel an gesehenen Gegensätzen und Impressionen, die die Sinne und Nerven bis aufs Äußerste überreizen und Ruhe einfordern, zu wenig Zeit zum Schlafen. Die Zeit zum Verarbeiten und zum Schreiben fehlt. Ich versuche sie mir zu nehmen, jedoch ist Zeit hier Mangelware, für mich zumindest. Denn bald schon geht es wieder zurück nach Hause und ich habe seit Tagen ein gewisses Gefühl der Panik, weil mir sehr schnell klar wurde, wie unglaublich groß dieses Land ist und wie unglaublich wenig ich von den geplanten Fotos eigentlich realisieren kann. Aber was soll’s. Auch wenn ich ein Jahr hier verbringen würde, empfände ich ähnlich. Und ganz ehrlich, für das geplante Buchprojekt ist längst genug Material vorhanden, also kein Grund zur Panik. Dennoch. Ich will hier noch nicht weg. Habe noch lange nicht alles gesehen. Die gelebte Intensität und atemloser Puls dieser Stadt überträgt sich auf mich, ist eigenartig und anziehend zugleich.
Seit letzten Samstag sind wir wieder zurück in Saigon und haben uns mitten im Zentrum preiswert eingenistet. Das Hotel ist ruhig, sauber und gut zu erreichen. Mein Zimmer liegt im vierten Stock und ist mittig in den Flur geknallt, daher die Variante „ohne Fenster“ nach draußen. Keine Fenster! Frühstück gibt’s oben im neunten Stock, immerhin mit Aussicht. Ein witziges „Merry Christmas“ Schild hängt da an der einen Wand, auf dem kleinen Balkon draußen wird das benutzte Geschirr per Hand neben den vollen Mülltüten und Aschenbechern gewaschen. Der scharfe Lärm der Straßen von unten ist gut zu hören und schon früh brennt die Sonne erbarmungslos. Aber der heisse Tee hier oben schmeckt wunderbar frisch und es gibt sogar Obst. Die kleine fleißige Indonesierin vom Büffet gibt sich wirklich Mühe, uns jeden Morgen ein frisches Omelett zu servieren (die Variante ohne Ei kennt sie leider nicht.) Seit gestern jedoch hat sie sich das Wort „vegetarisch“ gemerkt und empfängt mich mit einem strahlendem Lächeln und einem eigens für mich gemachten Omelett „without meat“. Ich nicke ihr dankbar zu, gieße mir Tee ein und gehe zum Rauchen raus auf den Balkon. Unten die Straße, oben der wolkenverhangene Himmel, hinter mir Gesprächsfetzen. Zwei Inder auf der Durchreise schlürfen ihren Tee und unterhalten sich, während das kleine Mädchen neben ihnen, vermutlich die Tochter, auf ein überdimensionales Handydisplay starrt.
Willkommen in Saigon.
Natürlich gibt es auch von hier aus eine Menge an Möglichkeiten für Ausflüge ins nahe gelegene Mekong Delta und in jede andere gewünschte Richtung. An quasi jeder Ecke präsentieren sich kleine Läden, die preiswert mit grandiosen Touristenattraktionen locken. Und dies sehr erfolgreich. Wir haben vor zwei Tagen spontan einen Tagesausflug zum Mekong River gebucht. Jetzt beim Schreiben wird mir klar, dass ich lieber gleich mein Geld in einen Mietwagen samt Fahrer hätte investieren sollen. Oder mir billig ein Auto oder am besten gleich ein Moped kaufen, die gibts hier schon ab 20 US Dollar. Fragt sich natürlich, wie weit man damit kommt. Aber wer nicht probiert, der nicht … wie auch immer. Denn die Alternative ist (aus meiner Sicht) einfach nur erschreckend. Für umgerechnet knapp 7 $ bekommt man also schon eine Tagesreise nach z.B. My Tho angeboten. „ONE DAY MEKONG!“ heisst es vielversprechend. Klingt generell nicht schlecht, ist aber für Leute wie mich eine Katastrophe. Oder eben ein Glück für bequeme Reisende, die schnell einen möglichst echt aussehenden Kegelhut für die Lieben mit nach Hause nehmen wollen. Reine Ansichtssache. In meinen Augen ist es jedoch nichts anderes als eine knallhart und straff durchkalkulierte Verkaufstour, die ahnungslose und leicht zu beeindruckende Touristen mit auf Kommerzreise ohne gefühlte Rückkehr nehmen. Ich hatte so etwas zuletzt vor Jahren in der Türkei erleben dürfen, hätte aber nie gedacht, solch eine Erfahrung noch einmal machen zu müssen. Aber was fast noch schlimmer ist: ich bin scheinbar die Einzige, die das so sieht. „Ach komm, das kostet doch kaum etwas, reg dich nicht so auf.“ Un doch, es regt mich auf. Dieses Nichts.
Also los gehts. Für einen Tag ist das ok, denke ich anfangs noch optimistisch, dann sehe ich die Gegend und kann dann immer noch entscheiden, wohin ich wirklich will. Einen Tag, come on, das schaffst du. Ich quetsche also den großen Fotorucksack (gottseidank habe ich mein Stativ im Hotelzimmer gelassen, bei der Hitze hier zählt jedes Gramm Gewicht) unter den Bussitz, den ich ganz hinten ergattert habe, stecke mir die Ohrhörer in den Kopf und warte darauf, dass wir losfahren. Aber das mit dem Losfahren dauert so ein bißchen. Irgendein Inder muss noch umquartiert werden, ein Chinese feilscht noch mit dem Tagespreis und einige Mitfahrer fehlen. Ich warte geduldig mit den anderen, im Ohr den passenden Soundtrack, Simon Stockhausen’s „TripTo Asia“ – ein grandioser Soundtrack für einen grandiosen Tag. Es ist acht Uhr früh und ich sitze im Bus Richtung Mekong Delta. Unser Reiseführer stellt sich vor. John Wayne will er genannt werden. John also, ok. Das Problem ist, John hört einfach nicht auf zu reden. Er redet über eine Stunde lang über den geplanten Trip, die Möglichkeiten zum billigen Einkaufen dort vor Ort, was man alles an einem Tag zu sehen bekommen kann und was weiß ich. Irgendwann schalte ich John aus und die Philharmoniker an, die inzwischen gewohnt leidenschaftlich „Don Juan“ von Strauss intonieren. Die Landschaft gleitet an mir vorbei. Langsam und mit vielen Zwischenstopps nähern wir uns dem Delta. John redet wieder drauf los. Braucht er eigentlich keine Pause?
Ich freue mich auf die Gerüche, die Farben, das Klima, diese ungestillte Sehnsucht nach dem Mehr, der erträumte Blick in die grüne unendliche Weite, stille Reisfelder, ruhig fließende Kanäle, Boote, Menschen. Der Bus hält unvermutet und wir werden zum Aussteigen angetrieben. Uns empfängt eine alles überlagernde Hitze, ich nutze meinen Fächer als Sonnenschirm und verfluche insgeheim meinen vollgepackten Fotorucksack auf meinem verklebten Rücken. Wir folgen John und seinem Begleiter, die hastig voranlaufen auf einem schmalem Steinweg durch unendlich wirres Grün, socken vorbei an kleinen Häusern, dichten Palmen, keine Zeit zum Innehalten, keine Gelegenheit zum Genießen, alles ist engmaschig vorprogrammiert. Während wir zu Fuß das kleine „origin artist village“ durchqueren, suche ich verzweifelt den Mekong River. Wir werden unter großen hölzernen Sonnendächern platziert, dürfen Erfrischungen kaufen und einheimische Produkte bewundern. Aber wo ist der Mekong River?
Weiter gehts dann per Boot durch die moskitoschwere Hitze, wir werden durch einen der vielen unzähligen Flusskanäle des Deltas gepaddelt, dann nach ca 15 Minuten raus aus dem Boot, hinein zum nächsten Stopp. Dieses Mal mit „traditionellem“ Essen und Cola Light. Gleich im Anschluß zeigen uns einheimische Dorfbewohner oder Agenturangestellte? stolz ihre große zahnlose Schlange – eine Boa, glaube ich – die man sich sogar um den Hals legen kann (erwartungsgemäß quietschen einige Mädchen laut und erschreckt, können sich aber dennoch nicht von dem Anblick der stolzen und stumm vor sich hinleidenden Schlange trennen. Selfies mit der Stange gibt’s natürlich auch). Zwei Schritte weiter putzt sich unbeeindruckt von allem eine kleine bunte Katze, der kleine magere Bauch aufgebläht. Sicherlich nicht von der Hitze. Ich hätte sie gern kurz berührt, begnüge mich aber mit einem Erinnerungsfoto. Die Schlange lasse ich in Ruhe und unfotografiert, mir ist gerade nicht nach einem Foto oder gar einen Blick in den erschreckend kleinen Käfig, in den sie nach ihrem Auftritt gleich wieder hineingesteckt wird. Essbare Tiere in zu kleinen Käfigen, das ist und bleibt in Asien eine komplett normale Sache.
Auf der nächsten Insel gibt es Krokodile zu bewundern, die nach unserer Ankunft gezielt gefüttert werden (hier lief dann doch meine Canon mit der 85er Festbrennweite zu ihrer Höchstform auf). Ich bin ziemlich dicht dran an den Krokos, eine beeindruckende Erfahrung, muss ich gestehen. In Läden nebenan gibt’s dann gleich „preiswerte“ Taschen aus passendem Krokodilleder – spätestens da wird es mir zuviel. Ich verschwinde abrupt aus CrocodileDisneyParadise in Richtung Fluss und versuche mit beiden Kameras möglichst viel in kurzer Zeit zu fotografieren. Immerhin haben wir gerade eine Stunde Pause. Super. Eine Stunde Zeit für Fotos. Ich darf nur nicht unser ablegendes Boot nach My Thot verpassen. Logischerweise verpasse ich eine Stunde später fast das Boot und bin die Letzte, die sich an John & Co vorbeiquetscht und seinen genervten Blick ignoriert. Als das Boot lostuckert, die Passagiere sich aufgeregt über ihre Erlebnisse von CrocoDisneyIsland austauschen, klettere ich einer Eingebung folgend ganz nach vorne auf den Bug des Schiffes und liege halb bäuchlings mit zerrissener Hose auf dem in der Strömung tanzendem Boot. Ich spüre die Gischt des Wassers im Gesicht und fotografiere den Mekong.
Und wie gewaltig er ist, der Mekong.
Stunden später bewundere ich einen grotesk malerischen Sonnenuntergang über den vorbeigleitenden grünen Reisfeldern – aber eben nur aus dem verkratzem Busfenster. Keine Chance für Fotos. Da sind wir nämlich wieder schon wieder sicher verfrachtet auf der Heimreise nach Saigon. Ach und auf der Rückfahrt gibt es komischerweise keinen einzigen Stopp für Toilettengang etc. Eigenartig. Aber ich bin sicher, die nächste Reisegruppe wartet schon.
John Wayne, der auf der Hinfahrt wortgewaltig auf Englisch sein Land und Kultur per Mikrofon mindestens eine Stunde lang anzupreisen wusste, verschwindet nach der Ankunft in Saigon ohne ein weiteres Wort, so wie auch die andern Mitreisenden, denn es regnet und die Straße, in der der Bus uns ausspuckt, quillt über mit Autos, Menschen und Mopeds. Wir hasten also aus dem Bus. Einzig die zwei australischen Backpacker lassen sich Zeit und tauschen noch schnell ihre Hosteladressen und facebook Accounts mit den beiden groß gewachsenen Blondinen vor ihnen aus. „That was so awesome!“, die großes schlanke Blondine ist hin und weg von ihrem Trip des Lebens und lässt bereitwillig zu, dass der eine Australier stillschweigend ihren Rucksack nimmt. Dann sind auch diese letzen Abenteurer verschwunden. Backpacking ist übrigens eine verdammt coole Datingbörse, wie ich in den letzten Tage – natürlich frei von jeglichen Neid – bemerkt habe.
Ich mache mich dann ebenfalls auf in Richtung Hotel. Raus aus den verschwitzten Klamotten, Beine hochlegen, Mückenstiche zählen und desinfizieren, und die zahlreichen Akkus aufladen ist inzwischen meine inzwischen abendliche Routine geworden. Und dabei beginne ich nachzudenken über den erlebten Tag, und ich denke an den Mekong River, an das Reisen, an das mehr und mehr enttäuschte Gefühl, welches sich in mir ausbreitet, während ich meine angeschwollenen Beine massiere und mir ein provisorisches Fußbad im Waschbecken gönne.
Mir wird klar, was mir heute so gefehlt hat, dieses intensive Glück des Erlebens und Wahrnehmens, um das es doch – und nicht nur bei Reisen – im Grunde genommen gehen soll. Eigentlich. Reisen zum Mekong Delta, ist es doch nur eine eingebildete Seifenblase von idealistischen und träumenden Bücherwürmern wie mir? Eine zu verklärte und romantisierte Vorstellung vom exotischen Indochina, eines präkolonialen Landes, das es in dieser Form schon lange nicht mehr gibt – trotz der Dong Khoi oder dem Hotel Grand Majestic und Graham Greenes stillem Amerikaner? Ich weiß die Antwort nicht. Ich weiß nur, dass mir diese vielen wunderschönen Bilder von diesem Tag nicht reichen. Und spüre, wie dieses Gefühl, um etwas Besonderes betrogen worden zu sein, in mir wächst und wächst. Um’s auf den Punkt zu bringen, ich vermisse schmerzlich den Zauber der ersten Begegnung mit dem sagenumwobenen Mekong Delta oder eher meine Vorstellung davon. „MEKONG ONE DAY!“ Verdammt.
Für morgen plane ich meinen letzen eintägigen Ausflug Richtung Mekong Delta. Dieses Mal mit einem öffentlichen Bus, der hier alle Stunde lang fährt. Denn ich will, ich muss da einfach nochmal hin. Und nicht nur wegen der Fotos. Wahrscheinlich werde ich einfach nur in Ruhe und ganz allein auf den gewaltigen Mekong starren, eine träge Fähre im Hintergrund beobachten, auf der ein weißgekleidete schlankes Mädchen im Strohhut an der Reling lehnt und mit wissenden Augen den Strom an sich vorbeigleiten lässt. Vielleicht passiert das ja alles doch. Irgendwo da draußen, am Mekong River …
Ein Buch Projekt? Ach wie spannend…Ich will auch ein Buch Projekt….
Du siehst, ich lese den Blog… Aber schreibe nur, wenn es dir auf der Seele brennt… vastehste? Bis bald!
Liebe Grüße von Mia und Ava!!
Vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren – ich freu mich auf ein Wiedersehen mit dir und deinen Mädels! Ganz liebe Grüße aus Saigon und bis bald 😉
Sehr schöner Eintrag! Macht richtig Lust auf Vietnam – dabei lässt Asien mich eigentlich eher kalt.
Aber dass du schreiben kannst, weiß man ja 🙂
Habe gerade einen ziemlich langen Kommentar verfasst, auf einmal war er ungespeichert weg, bin eben mit der rechten Hand immer noch sehr ungeschickt.